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AutorenbildChristine Ubeda Cruz

Das ging aber schnell/ ich meine/ das Leben*

Verschwommene Aufnahme eine schnell fahrenden Zuges
Und husch ist das Leben schon fast vorbei – oder?

Noch immer wundere ich mich, wenn ich gesiezt werde. Also von jungen Menschen. Sehe ich so alt aus? Scheinbar. Hab’ ich wohl geflissentlich ignoriert. Vielleicht sollte ich das jetzt mal ändern – und einen Pakt mit meinem realen Alter schließen.


Gefühlt vorgestern bin ich von zu Hause ausgezogen, habe Prüfungen bestanden und startete ins Berufsleben. Und heute erzählen Freunde davon, dass sie ihr Bad "altersgerecht" sanieren werden. Manche haben "Rücken". Ich habe "Gelenke". Es fühlt sich an, als hätte ich den, ich nenne ihn mal, "Reifeprozess" zwischen Jugend und dem Heute nicht mitgemacht. Vielleicht habe ich die Entwicklung, das Fortschreiten, der Lebensjahre aber auch einfach nur geschickt verdrängt. Aber jetzt hilft kein Leugnen mehr: Ja, ich gehöre zu den sogenannten geburtenstarken Jahrgängen. Ist eigentlich nichts Neues! Das war schon immer so. Ich hab’ mir das nicht ausgesucht. Dafür sind meine Eltern verantwortlich. Danke dafür. Ein guter Jahrgang, wie ich finde. Aber wieso ging das so schnell?


Gestern noch im Baum gesessen und vehement versucht, die Startbahn West am Frankfurter Flughafen zu verhindern (hat nicht funktioniert, wie wir alles wissen!) und jetzt bin ich auf einmal in der Altersgruppe der Babyboomer und Silver Ager angekommen? Und soll über altersgerechtes Wohnen nachdenken? Die Rente? Auch meine Stammzellen scheinen nicht mehr die frischesten zu sein. Mit einem Brief gratuliert mir die DKMS** sehr herzlich zum 61. Geburtstag. Und teilt galant aber deutlich mit, dass meine Kontaktdaten gelöscht würden, da ich nun nicht mehr zum Kreis der möglichen Spender gehören würde. Also, wenn ich es bisher offenbar erfolgreich ignoriert habe, hier steht’s, schwarz auf weiß: Ich bin alt!


Ich bin die letzten Jahre, ehrlich gesagt sind es ja schon Jahrzehnte, so schnell durch das, was man Leben nennt, gerast, dass mir nicht auffiel, wie um mich herum die Zeit verstrich. Vielleicht hegte ich auch die stille Hoffnung, dass der Prozess sich so anhalten oder gar umkehren ließe. Entgegen aller Naturgesetze. Neben mir wurden die Leute älter. Echt jetzt? Verdrängt. Fremde siezen mich. Neulich bat mir ein Teenager gar seinen Sitzplatz im Bus an. Sehe ich so alt aus? Ja, offenbar. Hab ich erfolgreich ignoriert. Bis eben.


That was fast. I mean life.

Ron Padgett*



Warum geht das Leben so schnell vorbei?


Google sagt: "Wenn wir älter werden, gibt es weniger Ereignisse, die einen starken Eindruck in unserem Gehirn hinterlassen, immer mehr Vorgänge laufen mehr oder weniger automatisch ab. Deshalb scheint die Zeit wie im Flug zu vergehen." Ok, denke ich. Das heißt im Umkehrschluss: Ich brauche mehr Ereignisse, die einen starken Eindruck in meinen grauen Zellen hinterlassen. Gut – daran lässt sich arbeiten.


Dann steht da noch: "Als Erwachsene lernen wir zudem, der Realität zu entfliehen." Ach, da ist sie wieder: die Realität! Bzw. meine offensichtliche Flucht daraus.


Schluss damit! Ich schaue der Wahrheit ins Auge. Und werde mich der, gar nicht so neuen, Realität stellen. Ich werde das Thema jetzt einmal ganz systematisch bewerten. Was dabei immer hilft: Eine Liste! Mit den Vor- und Nachteilen die sich ergeben, wenn ich mein Alter anerkenne oder eben nicht. Ganz analytisch. Das ist meine Liste:


Vorteile, wenn ich mein Alter anerkenne:

  • Wenn was weh tut, weiß ich woher es kommt

  • Ich kann auch Leute siezen

  • Ich kann den Sitzplatz im Bus dankbar und überrascht annehmen

  • Der 911 Porsche und die Fußball-Bundesliga sind "mein" Jahrgang – und noch immer top aktuell


Nachteile, wenn ich mein Alter anerkenne:

  • Ich (und der Doktor) finden keine Ursache für diverse Zipperlein

  • Ich werde immer noch gesiezt

  • Ich erwarte, dass ich einen Sitzplatz im Bus angeboten bekomme

  • Ich habe keinen 911er Porsche und werde nie einen haben – warum eigentlich? Siehe oben, mehr Ereignisse …

  • Die Kicker:innen in den Bundesliga-Mannschaften könnten allesamt meine Enkelkinder sein


Meine Liste zeigt ganz deutlich, dass es sinnvoll ist, das Alter anzuerkennen. Oder eben auch nicht. Denn:

Älter ist wie jung – nur besser!


P.S.: Wenige Tage, nachdem ich diesen Beitrag eigentlich fertiggestellt hatte, sah ich eine interessante Analyse. Forschende um den Psychologen Markus Wettstein von der Berliner Humboldt-Universität haben herausgefunden, dass sich die meisten Menschen ab der Lebensmitte (wann ist die eigentlich?) nicht so alt fühlen, wie sie in Lebensjahren gemessen sind. Die Analyse ergab: Im Mittel empfinden sich die Menschen in Deutschland um rund 11,5 Prozent jünger, als sie tatsächlich sind – im Alter von 60 Jahren fühlen sie sich also im Schnitt wie Anfang 50. Bingo! Da steht es. Schwarz auf weiß. Und 50 Jahre ist doch echt jung. Quasi die Lebensmitte.


P.P.S.: Markus Wettstein ist im selben Jahr wie ich geboren. Noch Fragen?



** Meine Registrierung bei der DKMS als Knochenmarkspenderin mag nun gelöscht sein. Aber nicht mein Engagement für diese gute Sache. Ich unterstütze ich die DKMS wie auch die José Carrerars Stiftung von Herzen mit Spenden, um ihre Arbeit gegen Leukämie zu unterstützen.


37 Ansichten2 Kommentare

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2 Comments

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Guest
Nov 19

Du sprichst mir aus der Seele, liebe Christine.

CARPE DIEM!

Mit lieben Grüßen

Ingrid

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Edith
Nov 17

Hach, liebe Christine. Ich reiche dir die Hand. Noch nicht ganz über 60, aber gefühlt 50. Nur wenn es wo zwickt oder zwackt, dann nicht. Liebe Grüße Edith

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