Er zwinkert, blinzelt, kneift die Augen zusammen. Zieht die Stirn kraus. Sein Arm kann gar nicht so weit ausfahren, wie es notwendig wäre, um auch nur annähernd irgendetwas auf der Speisenkarte zu erkennen. Was er sieht: schemenhafte Buchstaben, zierlich klein und in heller Farbe. „Super Design“ denkt er. Sein charmanter Ausweg: Die Kellnerin fragen, was sie denn heute Gutes empfehlen könne. Kann funktionieren. Muss aber nicht gut sein.
Irgendwann ist es so weit. Einsicht ist noch immer der beste Weg zur Besserung. Nix sehen führt - irgendwann, endlich - zum Optiker.
Dort nimmt Sven in einer kleinen Kammer Platz. Drückt die Augen zu. Kraust die Stirn. Strengt sich an. Um Zahlen auf einem Monitor zu erkennen. Oder sind es doch Buchstaben? Bekommt eine Brille Art „Kassenmodell 1688“ auf die Nase gedrückt. Die Fachkraft hält ihm immer wieder geschliffene Gläser vor die Augen und will wissen, ob die Sicht nun besser oder schlechter ist. Puh, ist das ein Hin und Her.
Aber - langsam sieht Sven „klarer“. Und kann ohne Stirnrunzeln und Augen zusammenkneifen die Buchstaben auf dem Display erkennen.
„Sie brauchen keine Brille“ sagt die freundliche Fachkraft, und macht eine bedeutungsschwangere Kunstpause. „Sie brauchen sogar zwei. Sie sind kurz- und weitsichtig. Zweites ist leider altersbedingt.“
Oh man, ist das deprimierend, denkt Sven. Das Alter! Kurzsichtig klingt aber auch wirklich beleidigend. Eingeschränkt. Endlich. Weitsichtig klingt ein wenig besser. Hat was Positives. Ist vorausschauend. Aber trotzdem: Ist der Lack jetzt ab? Oder nur die Linsen getrübt? Die ersten Hilfsmittel müssen her. Sollen ja das Leben leichter machen. Sagt man so.
Also gut - hilft ja nix: Die Gleitsichtbrille! Ein neuer Meilenstein im Leben. Und die vage Sorge: was kommt als Nächstes? Welche Hilfsmittel werden bei Sven kurz über lang einziehen (müssen)? Kurz denkt er an Opa Willi. Der mit dem Gehstock, den dritten Zähnen und dem Hörgerät… STOP! Der ist aber auch fast doppelt so alt wie er selbst…
Die Optiker-Fachkraft setzt ihm eine Brille auf die Nase. „Wie ist das?“
Die Welt hat doch Konturen
Er kann es kaum fassen! Sein Gegenüber hat eine Silhouette. Ein hübsches Gesicht. Der Verkaufsraum ist mit fein marmorierten Holzregalen ausgestattet. Und die bereitliegende Karte mit der kleiner werdender Schrift kann er endlich mühelos, ganz ohne Stirnrunzeln, lesen. Draußen, vor den Fenstern des Optiker-Geschäfts erkennt Sven gestochen scharf vorbei eilende Passanten. Und sogar die Auslagen im Geschäft gegenüber.
Eine neue Welt tut sich ihm auf! Vom Maulwurf zum Supermann!
Beschwingt wählt er ein cooles Brillengestell aus. Ist ja irgendwie auch ein schönes Accessoire.
Und fragt sich, wie und warum er sich bisher so „maulwurfig“ durch‘s Leben getastet hat.
Ein paar Tage später entdeckt Sven, nun mit hipper Brille auf der Nase, seine Stadt, sein Umfeld vollkommen neu. Einige Euro ärmer, aber um so viel reicher an Eindrücken, Impressionen und Empfindungen.
Und ihm ist klar geworden: Er betrachtet die Dinge am liebsten mit klarem Blick!
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