Brot selbst backen, Radfahren, Plastikfrei leben: Muss ich mitmachen, wenn scheinbar Alles zum Wettbewerb wird?
Kennst Du diesen, eigentlich deprimierenden, Werbespot: Ein Fahrstuhl voller Menschen. Montags. Lauter Anzugs- und Kostümträger. Und plötzlich fragt, offenbar der Chef, einen der Mit-Eingeklemmten: „Und Neumann, was haben Sie so am Wochenende gemacht?“ Schneller Kameraschnitt, Neumann‘s Wochenend-Aktivitäten: Neumann beim American Football. Neumann auf‘m Mountainbike, natürlich downhill. Neumann am Strand - und so weiter…
Dieser Werbeclip nervt mich total. Und ich frag’ mich: Steht er wirklich sinnbildlich für die Freizeitgestaltung vieler Menschen? Nach dem Motto: wenn ich unter der Woche im Job schon Vollgas gebe höre ich am Wochenende doch damit nicht auf?
Gut, der Werbespot ist schon ein paar Tage alt. Menschenmengen im Fahrstuhl gab es jetzt länger eher nicht. Anzüge und Kostüme hingen ziemlich nutzlos im Schrank. Das Virus hat so viel verändert. Homeoffice scheint für Viele entspannter zu sein. Natürlich nur, wenn Frau und Mann nicht nebenbei noch Aushilfslehrer spielen dürfen. Und auch die Wochenendbeschäftigungen scheinen etwas ruhiger zu sein - gezwungenermaßen. Wobei - ruhiger ist hier nicht ganz richtig. Hobbys haben sich teilweise ins Private verlagert. Ins Haus und die nähere Umgebung. Und auf Social Media.
Wobei - jetzt Ende März 2022 soll ja (fast?!) alles wieder möglich werden.
MÜSSEN WIR UNS IMMER MESSEN?
Der Drang nach Wettbewerb, nach Besonders-Sein, nach Exzellenz - der scheint weiterhin stark ausgeprägt zu sein. Warum eigentlich? Fehlt uns das erfolgsorientierte Posen im Beruf so sehr, dass wir dieses Verhalten nun ersatzweise und/oder zusätzlich auch in unserer Freizeit weiterführen?
Vor einiger Zeit hat kaum einer darüber gesprochen. Bier, Schnaps- oder Weintrinken tat man einfach. Und hat daraus kein Fest gemacht. Nicht größer drüber gesprochen. Jetzt sind es Connaisseur-Verköstigungen. Feinste Stöffchen, liebevoll zusammengestellt und rechtzeitig vor der Zoom-Verkostung zugestellt.
War es vor kurzem noch der Citymarathon, ist es heute das Brotbacken. Die neue Challenge! Kaffee ist schon lange nicht gleich Kaffee. Allein die Zubereitung ist für manche eine Wissenschaft. Entweder in würdevoller Zen-Tradition oder hochgerüstet mit dem MUST HAVE - dem perfekten Vollautomaten zum Gegenwert eines Diamantringes. Ganz zu schweigen von der perfekten Bohne, natürlich handverlesen, bio und fair.
Man weiß, hat und kann so viel. Aber muss das sein? Ich bin skeptisch…
WO „KEIN“ WILLE IST, IST AUCH “EIN” WEG
Als Schülerin war ich so lala. Mit etwas stärkeren Ambitionen wäre ich sicher besser gewesen. Aber es gab so viel anderes, was mir mehr Spaß machte. Rollschuhlaufen, lesen, mit Freund:innen und Geschwistern durch die Gegend stromern. Ich habe Musik gemacht. Erst, ganz klassisch. Und habe meine Lieben mit der Blockflöte gequält. Dann, wohl durchaus mit Talent, Altflöte gespielt. Aber irgendwas hat immer gefehlt: Der Wille, das Durchhaltevermögen, das Können, die Energie - oder was auch immer?
Ich bin in fast allem absolutes Mittelmaß. Das hat mich oft ziemlich gewurmt. Und dann hab‘ ich sehr viel an Willen und Energie investiert. Gekämpft und Gekrampft. Und trotzdem reichte es nicht zum Durchbruch. Die Weltkarriere - in was auch immer - machen andere…
Heute bin ich frei. Hab‘ meinen Frieden damit gemacht, dass ich in Vielem allenfalls Durchschnitt bin. Ich drehe laufend meine Runden im Stadtwald. In welcher Zeit? Keine Ahnung. Irgendwelchen Rekordzeiten renne ich nicht hinterher. Und auch mein Equipment bedarf keiner Professionalisierung. Schuhe, Hose, Jacke und meine Beine - mehr brauche ich nicht dazu. Ok, den Rest meines Körpers nehme ich natürlich auch mit.
Ich trinke gern ein gutes Glas Wein. Welcher Wein gut ist? Na, der, der mir schmeckt! Vollkommen losgelöst von irgendwelchen Geschmacks-Indikatoren, von x-Punkten auf einem Wein-Index. Viel wichtiger ist mir, mit wem ich das Glas genieße.
SPRÖDER DURCHSCHNITT?
Das klingt alles ziemlich durchschnittlich. Und ja, das ist es auch. Wäre da nicht meine eine „Inselbegabung“. Zufriedenheit, mit dem was ist! Mir reicht es, in zwei, drei Dingen gut zu sein. Gut und nicht „Sehr gut“! Sollen sich doch andere um die Krone für das beste selbst gebackene Brot, den edelsten Wein und die intergalaktisch beste Kaffeemaschine streiten. Ich weiß, dass Familie und Freund:innen meine Zuverlässigkeit schätzen und manchmal mit meinem Humor zu kämpfen haben. Mehr brauche ich gar nicht.
Und außerdem will ich einfach „nichts müssen“ müssen. Ich will in meiner Freizeit nicht funktionieren müssen oder nach Erfolgen gieren.
Mein Lob auf die Mittelmäßigkeit ist auch gleich ein Plädoyer für die Genügsamkeit! Ich glaube, damit liege ich voll im Trend. Genügsamkeit durften wir die vergangene zwei Jahre ausgiebig proben. Auch wenn wir es gar nicht darauf angelegt hatten. Und mit jedem hat diese Zeit was gemacht.
Einige brennen darauf, das gesamte Leben nun endlich wieder als Wettbewerb zu gestalten. Unter dem Motto „Guck mal, was ich kann“ stürzen sich die „Neumanns dieser Welt“ wieder die Berge runter, morgens am Strand unter südlicher Sonne und nachmittags von schneebedeckten Gipfeln.
Andere lehnen sich zurück, schauen zu, oder auch nicht. Und sind zufrieden, einen stinknormalen leckeren Kaffee zu trinken. Der im besten Falle auch noch ein wenig wach macht. Oder genießen ein gutes Glas Wein, vollkommen unspektakulär, lachend mit Freunden im Wohnzimmer.
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