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  • AutorenbildChristine Ubeda Cruz

Donnerstagmorgen, und das Leben ist anders…

Aktualisiert: 25. Juli 2021



Donnerstag, 22. Juli 2021


Du sitzt im Bus oder Zug. Immer zur selben Zeit. Und Du beobachtest Deine Umgebung. Bewusst oder unbewusst. Dein "…und täglich grüßt das Murmeltier". Und dann ist urplötzlich etwas anders. Aus der Reihe getanzt. Was macht das mit Dir?



Dienstag

Ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Ich sehe diesen Mann jeden Tag. Wir nehmen täglich die selbe Straßenbahn. Die um 07.18 Uhr abfährt. Um diese Zeit sind fast immer die gleichen Frühaufsteher unterwegs. Jeder hat „seinen“ Platz.

Und alle haben ein Morgen-Ritual. Die gut gekleidete blonde Dame prüft, wahrscheinlich zum x-ten Mal, den Sitz ihrer Haare und kontrolliert ihr ohnehin perfektes Make-Up. Der hippe Nerd mit den dicken Micky-Mäusen auf den Ohren hantiert mit mindestens zwei Handys im Rhythmus seiner Musik. Ein junger Vater jongliert die Schnuller und Trinkflaschen seiner Zwillings-Jungs im Doppel-Buggy. Die quirligen Kleinen bringen Leben in den vor Müdigkeit wabernden Wagon. Heute sind sie gut drauf - fröhlich feixend bringen sie kindliches Vergnügen in die Bahn.

Und dann ist da noch dieser Mann. Der, der immer auf dem Einzelsitz Platz nimmt. Seine alte, abgewetzte Aktentasche öffnet. Zuerst einen Thermobecher auf das kleine Tischchen stellt. Und dann andächtig seine Brille putzt. Erst wenn er das Etui in der Tasche verstaut hat, nimmt er sein Buch raus. Liebevoll streicht er über den Einband. Und beginnt zu lesen.

Ich kann ihn gut beobachten. Aber eigentlich beobachte ich ihn nicht wissentlich, nicht absichtlich. Aber er fällt mir auf. Obwohl - warum eigentlich? Er ist nicht groß und auch nicht klein. Nicht besonders Aufsehen erregend. Aber auch nicht unscheinbar. Ist er jung? Oder alt? Ich weiß es nicht. Er schaut ernst und in sich gekehrt aus. Dabei aber nicht grimmig oder abweisend. Ist er gutaussehend? Hat er einen Bart? Auch diese Fragen kann ich nicht mit Sicherheit beantworten. Ist auch gar nicht wichtig. Aber er hat was! Aber was eigentlich? Wenn ich das wüsste...

Meine Sinne versuchen ihn zu ergründen. Ihn zu verstehen, zu lesen. Ist es seine Präsenz? Sein „Normal-Sein“ inmitten einer permanent nach Aufmerksamkeit suchenden Welt? Seine Ruhe und ich würde sagen, fast Würde, mit der er jede Handlung vollzieht? Alles wirkt so harmonisch und bedacht. In all seiner Bedeutungslosigkeit.

Er sitzt auf seinem Platz. Aufrecht, konzentriert. Flink huschen seine Augen über die Zeilen, bedächtig blättert er Seite für Seite um. Er scheint jedes Kapitel sorgsam zu verinnerlichen. Verzieht keine Miene. Keine Ahnung, ob ihn das Gelesene amüsiert, interessiert oder schockiert. Ganz nebenbei nippt er an seinem Thermobecher. Und ist dabei so auf sein Buch fixiert, als ob er Angst hätte, einzelne Silben zu verpassen. Er scheint dieser Welt entrückt. Nimmt sie nicht wahr. Selbst das fröhliche Geplapper der Zwillinge erreicht ihn nicht.

Dann legt er vorsichtig ein Lesezeichen auf und streicht liebevoll über die zuletzt gelesene Seite. Mit Bedacht verstaut er das Buch in seiner Tasche, nimmt die Brille ab, positioniert sie sorgsam im Etui und mit dem Trinkbecher in der Aktentasche.


Jetzt hat die Straßenbahn die Haltestelle in der City erreicht. Alle drängen zur Tür. Jeder will schnell raus. Die hektische Menschenmenge verschluckt Einen nach dem Anderen. Und die ruhige Magie des lesenden Mannes ist verpufft.


Mittwoch

Ich sitze auf „meinem Platz“ in der Straßenbahn um 07:18 Uhr. Alles ist so wie immer. Heute sind die Zwillinge auf Krawall gebürstet. Haben großen Spaß daran, abwechselnd ihre Trinkflaschen oder Schnuller durch die Gegend zu werfen. Beschäftigen sowohl den leicht überforderten Vater als auch den halben Wagon mit Frühsport. Immer wiederkehrendes Bücken ist die heutige Übung. Einige Fahrgäste lachen, andere wenden sich genervt ab.

Aber wo ist er? Der Mann mit der alten Aktentasche auf dem Einzelplatz? „Der Lesende“ hab' ich ihn für mich genannt. Ich schaue aus dem Fenster. Den Bahnsteig entlang. Hat er verschlafen? Sich verspätet? Ist er krank oder hat Urlaub?

Ein merkwürdiges Gefühl, jemanden so zu vermissen, den man eigentlich gar nicht kennt. Er ist halt schon seit Jahren „mein“ Mitfahrer… Und heute nicht da. Sein Platz bleibt verwaist. Leer. Da klafft ein Loch.


Donnerstag

Mit einem schnellen Sprint schaffe ich gerade eben so die Straßenbahn. Nach Luft japsend plumpse ich auf "meinen" Platz. Puh, erst mal zu Atem kommen. Schneller Beauty-Check mit der Handy-Kamera. Ok, geht so. Langsam beruhigt sich mein Puls. Alle da? Ja, der mit den Mickymäusen auf den Ohren hört seine Musik ordentlich laut. Ich kann die Bässe im Bauch spüren. Mag ich sehr… Die Zwillinge sind vergnügt. Die blonde Dame hat schicke neue Strähnen. Und wer sitz da - auf „SEINEM PLATZ“??? Das ist ja wohl die Höhe! Ein Fremder… Frechheit, Einer, der sich da einfach hingesetzt hat.

Halt! Stopp! Nein, das ist ja ER! Wirkt ganz verändert. Aufrecht, aufgeschlossen und interessiert in die Welt blickend. Statt der alten Aktentasche liegt ein cooler Rucksack auf seinem Schoß. Er schaut auf die an uns vorbeiziehende Landschaft. Lächelt versonnen. Scheint zum ersten Mal die Strecke wahrzunehmenden. Vermittelt den Eindruck, das






das was er sieht ihn erfreut, ja teilweise überrascht. Und spielt mit den Zwillingen. Redet mit ihnen und dem Vater. Huch - der kann auch sprechen!?

Ich bin erstaunt. Und noch neugieriger. Doch schon sind wir in der City und steigen aus. Er hilft dem Zwillings-Papa und winkt den Knirpsen zum Abschied zu, bevor ihn die hektische Menschenmasse auf ihrem Weg zu Arbeit verschluckt.


Ich laufe langsam und tief in Gedanken versunken meinen Weg zum Büro. Und denke nach. Über diesen Unbekannten. Der mir so vertraut schien. Und jetzt so ganz anders ist. Was mag ihm passiert sein? Welches Erlebnis, Ereignis hat dazu geführt, dass er sich plötzlich so anders verhält? So verändert wirkt. Ich spinne rum. Ein neuer Job, ein Lottogewinn, eine neue Bekanntschaft? Ist er verliebt oder befreit? Oder hat er all seine Bücher ausgelesen? Und möchte jetzt an Begegnungen in der realen Welt teilhaben?

Ich schüttle den Kopf über mich selbst. Frag mich stirnrunzelnd, welchen Hirngespinsten ich da nachjage. Was geht mich das überhaupt an. Nix!



Gewohnheiten und Rituale


Und dann denke ich über meine Gewohnheiten nach. Darüber, dass ich täglich so tue, als würde ich Zeitung lesen. Und dabei diesen Mann heimlich analysiere. Oder die blonde Frau mustere, mit voller Begeisterung und manchmal auch etwas Neid gestehe, dass sie guten Geschmack beweist. Und darüber, dass ich immer diese Bahn um 07:18 Uhr nehme. Müsste ich nicht. Ich arbeite Gleitzeit. Ich sinniere darüber, das ich bis zum Einstiegen in die Straßenbahn bereits unzählige Rituale, Gewohnheiten, automatische Handlungen zuhause vollzogen habe.

Vielleicht hat der Mann einfach mal beschlossen, etwas in seinem Leben zu ändern. Zum Beispiel seine alte Aktentasche gegen einen coolen Rucksack einzutauschen. Und mal nicht in seine Bücherwelt abzutauschen sondern das wahre Leben in sich aufzunehmen. Mal zwei seiner Rituale zu begraben. Eigentlich ‚ne gute Idee. Mal was anderes zu machen. Etwas Neues auszuprobieren. Es muss ja nicht gleich ein wahnsinnig bedeutsames Ereignis dahinter stecken.

Ich glaub, das mach ich morgen auch mal!


Freitag

Ich habe einfach noch ein paar Mal auf die Snooze Taste des Weckers gedrückt. Und statt Cappuccino einen Espresso mit ganz viel Milch getrunken. Kühn die Kleidung angezogen, die sonst nie jemand in meiner Firma an mir zu sehen kriegt. Hab’ mich als die „echte“ Christine „verkleidet“. Nix Business-Lady. Zudem bin ich mindestens “elfundneunzig“ Bahnen später gefahren. Und hab’ dann auch noch ganz frech einen anderen Sitzplatz gewählt und einfach mal aus‘m Fenster geguckt. Und mit Staunen die Welt da draußen wahrgenommen! Hat gut getan. Ich glaube, sowas mach ich jetzt öfter…


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